Quelle: BFH-Pressemitteilung Nr. 69/12, Pressemitteilung vom 10.10.2012, BFH-Beschluss vom 27.09.2012, Aktenzeichen II R 9/11
Der Bundesfinanzhof (BFH) hat mit Beschluss vom 27. September 2012 II R 9/11 dem Bundesverfassungsgericht die Frage vorgelegt, ob § 19 Abs. 1 des Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetzes in der im Jahr 2009 geltenden Fassung (ErbStG) i.V.m. §§ 13a und 13b ErbStG wegen Verstoßes gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes – GG -) verfassungswidrig ist.
Dem Verfahren liegt die Besteuerung eines Erbanfalls im Jahre 2009 zugrunde. Der Kläger war zu 1/4 Miterbe seines Onkels. Im Nachlass befanden sich Guthaben bei Kreditinstituten und ein Steuererstattungsanspruch. Der Wert des auf den Kläger entfallenden Anteils am Nachlass belief sich auf 51.266 EUR. Unter Berücksichtigung eines Freibetrags von 20.000 EUR und eines Steuersatzes von 30 % setzte das Finanzamt Erbschaftsteuer in Höhe von 9.360 EUR fest.
Der BFH teilt nicht die Ansicht des Klägers, die auf Steuerentstehungszeitpunkte im Jahr 2009 beschränkte Gleichstellung von Personen der Steuerklasse II (u.a. Geschwister, Neffen und Nichten) mit Personen der Steuerklasse III (fremde Dritte) sei verfassungswidrig (Rz. 69 bis 77). Nach Auffassung des BFH ist der Gesetzgeber von Verfassungs wegen nicht verpflichtet, Erwerber der Steuerklasse II besser zu stellen als Erwerber der Steuerklasse III. Art. 6 Abs. 1 GG beziehe sich nur auf die Familie als Gemeinschaft von Eltern und Kindern, nicht aber auf Familienmitglieder im weiteren Sinn wie etwa Geschwister oder Abkömmlinge von Geschwistern (Rz. 72).
Der BFH ist jedoch der Auffassung, dass § 19 Abs. 1 i.V.m. §§ 13a und 13b ErbStG in der auf den 1. Januar 2009 zurückwirkenden Fassung des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes vom 22. Dezember 2009 deshalb gegen den allgemeinen Gleichheitssatz verstoße, weil die in §§ 13a und 13b ErbStG vorgesehenen Steuervergünstigungen in wesentlichen Teilbereichen von großer finanzieller Tragweite über das verfassungsrechtlich gerechtfertigte Maß hinausgingen.
Im Einzelnen stützt der BFH seine Vorlage auf folgende Gesichtspunkte:
1. Die weitgehende oder vollständige steuerliche Verschonung des Erwerbs von Betriebsvermögen, land- und forstwirtschaftlichem Vermögen und Anteilen an Kapitalgesellschaften oder Anteilen daran stelle eine nicht durch ausreichende Gemeinwohlgründe gerechtfertigte und damit verfassungswidrige Überprivilegierung dar (Rz. 82 bis 94). Es könne nicht unterstellt werden, dass die Erbschaftsteuer typischerweise die Betriebsfortführung gefährde (siehe Gutachten des wissenschaftlichen Beirats beim BMF 01/2012; Rz. 89 ff.); es gehe weit über das verfassungsrechtlich Gebotene und Zulässige hinaus, Betriebsvermögen ohne Rücksicht auf den Wert des Erwerbs und die Leistungsfähigkeit des Erwerbers freizustellen, und zwar auch dann, wenn die für eine Erbschaftsteuerzahlung erforderlichen liquiden Mittel vorhanden seien oder – ggf. im Rahmen einer Stundung der Steuer – ohne weiteres beschafft werden könnten (Rz. 87).
Der Begünstigungsgrund „Arbeitsplatzerhalt“ erweise sich als nicht tragfähig, weil weit mehr als 90 % aller Betriebe nicht mehr als 20 Beschäftigte hätten (Rz. 48) und schon deshalb nicht unter die „Arbeitsplatzklausel“ fielen und ferner das Gesetz Gestaltungen zulasse, die es in vielen Fällen auf einfache Art und Weise ermöglichten, dass es für die Gewährung des Verschonungsabschlags auch bei Betrieben mit mehr als 20 Beschäftigten im Ergebnis nicht auf die Entwicklung der Lohnsummen und somit auf die Erhaltung von Arbeitsplätzen in dem Zeitraum nach dem Erwerb ankomme (Rz. 143 bis 148 mit Beispielen).
2. §§ 13a und 13b ErbStG wiesen ferner einen verfassungswidrigen Begünstigungsüberhang auf (Rz. 95 bis 142). Sie ermöglichten es Steuerpflichtigen, durch rechtliche Gestaltungen nicht betriebsnotwendiges Vermögen, das den Begünstigungszweck nicht erfülle, in unbegrenzter Höhe ohne oder mit nur geringer Steuerbelastung zu erwerben. Es unterliege weitgehend der Dispositionsfreiheit des Erblassers oder Schenkers, Vermögensgegenstände, die ihrer Natur nach im Rahmen der privaten Vermögensverwaltung gehalten würden, zu steuerbegünstigtem Betriebsvermögen zu machen (Rz. 97, 98). Die Bestimmungen hinsichtlich des sog. Verwaltungsvermögens (§ 13b Abs. 2 ErbStG) seien nicht geeignet, risikobehaftetes und deshalb zu begünstigendes Betriebsvermögen von weitgehend risikolosem und daher nicht begünstigungswürdigem Betriebsvermögen abzugrenzen, und widersprächen auch dem Folgerichtigkeitsgebot. So könne bei entsprechender Gestaltung der unschädliche Anteil des nicht begünstigungswürdigen Verwaltungsvermögens sowohl bei der Regelverschonung (85 % Befreiung) als auch bei der Optionsverschonung (100 % Befreiung) deutlich über 90 % des gesamten Betriebsvermögens betragen (Rz. 104 bis 116 mit Beispielen in Rz. 105 ff. und Rz. 113 ff.). Ferner gehörten Geldforderungen wie etwa Sichteinlagen, Sparanlagen und Festgeldkonten bei Kreditinstituten nicht zum Verwaltungsvermögen, sodass ein Anteil an einer GmbH oder GmbH und Co. KG, deren Vermögen ausschließlich aus solchen Forderungen bestehe (z.B. sog. „Cash-GmbH), durch freigebige Zuwendung oder von Todes wegen erworben werden könne, ohne dass Erbschaftsteuer anfalle (Rz. 117 bis 130).
3. Die zusätzlich zu den Freibeträgen des § 16 ErbStG anwendbaren Steuervergünstigungen nach §§ 13a und 13b ErbStG zusammen mit zahlreichen anderen Verschonungen führten dazu, dass die Steuerbefreiung die Regel und die tatsächliche Besteuerung die Ausnahme sei (Rz. 149 bis 156).
Die Verfassungsverstöße führten – so der BFH – teils für sich allein, teils in ihrer Kumulation zu einer durchgehenden, das gesamte Gesetz erfassenden verfassungswidrigen Fehlbesteuerung, durch die diejenigen Steuerpflichtigen, die die Vergünstigungen nicht beanspruchen könnten, in ihrem Recht auf eine gleichmäßige, der Leistungsfähigkeit entsprechende und folgerichtige Besteuerung verletzt würden.